Die situative Dominanz ist flüchtig wie ein Duft. Gerade hast du sie noch beobachtet und gleich darauf ist es, als hätte es sie nie gegeben.
Und genau das zeichnet die situative Dominanz aus: sie ist genau solange vorhanden wie es gilt, etwas Wichtiges zu schützen, behalten oder erobern.
Genauso typisch bei der situativen Dominanz ist aber auch, dass der Hund, der gerade noch stark und unbesiegbar wirkte, sich im nächsten Moment unterwürfig verhalten kann.
DIE SITUATIVE DOMINANZ (BE)SCHÜTZT
So ist die situative Dominanz auch häufig in Situationen zu beobachten, wo es um den Besitz oder Erhalt von Ressourcen geht. Dazu gehören Futter und Spieli genauso wie der eigene Besitzer. Und ein gewöhnlicher Kieselstein oder ein gefundener Ast kann ebenso heftig verteidigt werden wie ein köstlicher Kauknochen.
Die situative Dominanz kommt aber auch dann zum Tragen, wenn es gilt, Wichtiges zu beschützen wie die eigenen Welpen, die Gegenstände des Besitzers oder die eigene Unversehrtheit. Und in Interaktionen dient sie dazu, ein unerwünschtes Verhalten des Gegenübers zu stoppen.
Aus diesem Grund sind bei der situativen Dominanz auch viele Signale aus dem defensiven Drohbereich zu erkennen, wie es auch Udo Ganslosser in seinem Buch „Verhaltensbiologie für Hundehalter“ beschreibt: „Typische Merkmale der situativen Dominanz sind das Vorpreschen, das Bellen, Abschnappen, das Über-die-Schnauze-fassen (nicht drücken!) und andere Abbruchsignale – alles Verhalten aus der defensiven Aggression“

Rio stoppt den Riesenschnauzer durch aktives Drohen, worauf dieser sich sofort zurücknimmt. Daneben kaut Jason scheinbar unbeteiligt an einem Stöckchen
Dies alles zeigt, dass der situativen Dominanz die Angst zu Grunde liegt, etwas zu verlieren oder auch der Wunsch etwas in Besitz zu bringen und nicht das Bedürfnis, über einen anderen Hund oder Menschen zu herrschen.
MERKMALE DER SITUATIVEN DOMINANZ
Auch wenn der Hund in dem Moment laut und aggressiv daher zu kommen scheint, will er den anderen Hund nicht ernsthaft verletzen. Und je mental stärker ein Hund ist, desto eher wird er seine Bedürfnisse auch ohne grossen Gesten durchsetzen können. Nur wenn die Ressource sehr wertvoll ist oder einem Hund kein Ausweg bleibt, kann es in all diesen Situationen zu einer handfesten Auseinandersetzung kommen.
Aber nicht immer kommt die situative Dominanz laut daher. Manchmal genügt es auch einfach da zu sein. So haben wir in der Ausbildung eine Huskyhündin beobachtet, die sich völlig unspektakulär in einer Gruppe bewegte und doch machte ihr jeder Platz. Und als sie sich hinlegte, entstand ein grosser Kreis aus Menschen und Hunden um sie herum – den nur 1 oder 2 Junghunde durchquerten. Und Günter Bloch beschrieb in einem seiner Vorträge ein jüngeres Tier, welches sich in der Kuhle des Ältesten bequem gemacht hatte. Aber statt ihn nun durch Drohen oder sonstiger aversiven Signale zu vertreiben, legte sich der Ältere einfach entspannt neben die Kuhle. Dem Jüngeren war dies aber sichtlich unangenehm, weshalb es nicht lange dauerte bis er den Platz freigab.
DIE SITUATIVE DOMINANZ IST KEINE CHARAKTERSACHE
Diese Ausführungen zeigen ganz klar, dass mit der situativen Dominanz eben nicht eine Charaktereigenschaft beschrieben wird, sondern immer nur ein Verhalten, welches im Hier und Jetzt beobachtet wird. Einem Hund daher zu unterstellen er sei dominant, ist somit nicht nur falsch, es führt auch zu unfairen und wenig hilfreichen Erziehungsratschlägen und Handlungen seitens des Besitzers.
Nicht verwechselt werden darf dieses dominierendevVerhalten jedoch mit jenen, bei denen eine generelle Angst oder Unsicherheit die Ursache ist. Auch wenn sich die Reaktionen in vielem ähneln.
Ebenso hat es nichts mit einer situativen Dominanz zu tun, wenn ein Hund regelmässig und ohne Grund andere Hunde einschränkt oder einem Hund im gleichen Haushalt immer alles wegnimmt. Ebenso wenig handelt ein Hund dominant oder frech, der unterwegs fremde Hunde bedrängt und einschüchtert. Viel mehr ist es ein Zeichen für Überforderung, weil er keinen anderen Weg kennt mit anderen Hunden zu interagieren oder sie auf Distanz zu halten. Und weil er über die Zeit gelernt hat, dass ihm dieses Verhalten hilft, wird er immer öfters so handeln.
DIE SITUATIVE DOMINANZ STEHT ALLEN ZU
Deshalb darf der Junghund seinen Knochen auch vor dem Älteren verteidigen, der Kleinste seinen Liegeplatz gegen den Grösseren oder der neu eingezogene Hund seinen Platz auf dem Sofa gegen den Ersthund. Und auch innerhalb der Mensch-Hund-Beziehung hat der Hund das Recht, seine Bedürfnisse nach Besitz und Unversehrtheit mit Verhalten aus der situativen Dominanz zu artikulieren.
Somit ist auch klar, dass die situative Dominanz artübergreifend stattfinden kann und dass weder Geschlecht, Rang noch Alter eine wesentliche Rolle spielen. Ebenso findet sich die situative Dominanz sowohl in festen Gruppen als auch zwischen sich zufällig treffenden Lebewesen (Tier oder Mensch).
Denn wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein momentanes Verhalten, welches weder bestehende Beziehungen in Frage stellt noch an irgendwelchen Strukturen rüttelt oder neue schafft. Und schon gar nicht wird dadurch die viel zitierte Weltherrschaften übernommen.
Aber natürlich gilt es auch hier genau hinzuschauen und seinem Hund zu helfen, wenn er häufig in die Situation kommt, in der er Dinge oder sich selber verteidigen muss. Denn entweder hat er immer wieder erfahren, dass es ihm sonst tatsächlich weggenommen wird oder er hatte bis anhin so wenig Eigenes, dass ihm dieses nun um so wertvoller scheint. Der dadurch ausgelöste Stress ist belastend und kann über kurz oder lang zu chronischen Krankheiten führen.
Deshalb: Schau genau hin, welche Motivation hinter dem Verhalten steckt und urteile nicht vorschnell.
DIE SITUATIVE DOMINANZ IST FLIESSEND
Damit zeigt sich ein weiteres Merkmal der situativen Dominanz: Der Hund, der sich gerade noch dominant gegen einen anderen Hund verhalten hat, kann sich in der nächsten Begegnung unterwürfig und zurückhaltend sein.
Und ein Welpe, der gerade noch seinen Knochen gegen seine Geschwisterchen verteidigt hat, gibt diesen im nächsten Moment mehr oder weniger klaglos seiner Mutter ab.
Auch der Hund, der sich den Knochen problemlos von seiner Besitzerin wegnehmen lässt, ihn aber gegenüber einem fremden Menschen verteidigt, verhält sich situativ dominant.
DIE SITUATIVE DOMINANZ UND DEIN HUND
Immer noch findet sich in diversen Büchern und Trainingsphilosophien der Hinweis, dass ein Hund auf keinen Fall seinen Knochen gegen seinen Menschen verteidigen oder ihn gar anknurren darf, wenn er ihm die Pfoten putzen möchte.
Dahinter steckt immer noch die alte Angst, dass der Hund sonst seinen Menschen manipulieren und dessen Leben dominieren würde. Eine Ansicht, die heute gottseidank längst wissenschaftlich widerlegt ist.
Hinzukommt, dass es natürlich viel bequemer ist, wenn man sich keine Gedanken um die Bedürfnisse des Hundes machen muss, sondern diese unter dem Deckmantel des dominanten Hundes einfach abstellt. Heute weiss man jedoch, dass das Zusammenleben für Alle viel harmonischer und schöner ist, wenn auch der Hund mit all seinen Bedürfnissen und Gefühlen wahrgenommen wird.
Hab deshalb keine Angst davor, dass dich dein Hund dominiert wenn er
- dich zum Spielen oder Kuscheln auffordert – er geniesst einfach das Zusammensein mit dir
- gerne auf dem weichen Sofa liegt – auch er hat es gern bequem
- vor dir durch die Türe geht – er ist einfach schneller als du
- auf dem Spaziergang vor dir läuft – sondern geniesse es, ihn dabei zu beobachten
- vor dir frisst – im Gegensatz zu den uns nahe verwandten Affen, spielt Futter in der Hierarchie keine Rolle
.. - dich anknurrt, wenn er einen Knochen hat – zeige ihm stattdessen, dass du seinen Besitz respektierst
- wenn er sich gegen eine Behandlung wehrt – übe diese so kleinschrittig mit ihm, dass er sich dabei wohlfühlt
Auch der Hund, welcher aggressiv auf fremde Menschen und Hunde reagiert, ist nicht dominant, sondern fürchtet sich in der Regel vor diesen. Und die Erfahrung hat ihm gezeigt, dass er sie damit auf Distanz halten kann.
DEIN HUND DARF NICHT ALLES
Natürlich muss ein Hund auch lernen, dass er nicht jederzeit auf’s Sofa darf, dass er auf dich warten oder hinter dir gehen soll, wenn du es sagst. Aber dies nicht, um ihm zu zeigen, wer hier der Chef ist, sondern weil es in dem Moment aus Gründen der Sicherheit erforderlich ist. Dies alles kann du ihm in einem achtsamen Training so beibringen, dass es für ihn ein leichtes ist, die entsprechenden Signale und Regeln zu befolgen.
Und genau so schön ist es, wenn ein Hund ganz ohne Stress auch mal einen Knochen abgeben kann oder dir sein Futterschälchen überlässt. Auch hier gibt es tolle Aufbautrainings, ohne dass du den Rudelführer herauskehren musst. Etwas, das es zwischen Artfremden sowieso nicht gibt.
Hast du es bemerkt? Bei den letztgenannten Beispielen warst es immer du, der den situativ dominanten Part inne hat. Und ich bin sicher, du wirst in eurem gemeinsamen Leben noch ganz viele dieser Beispiele finden. Notier dir doch einfach mal auf einem Zettel wo und wann du Dinge von deinem Hund verlangst und wo er über sich und seine Bedürfnisse bestimmen darf. Und ich denke, du wirst vielmehr auf deiner Seite der Liste finden als auf seiner.
Und wer weiss, vielleicht fallen dir auf deiner Liste auch noch einige Dinge ein auf, die du deinem Hund zukünftig zugestehen kannst. Wie zum Beispiel den heutigen Spazierweg zu bestimmen oder welche Beschäftigung oder welchen Kauartikel er heute möchte. Alles kleine Privilegien, die deinem Hund mehr Selbstwert geben und euer Bindung noch stärker machen.
Weiterführende Artikel zu diesem Thema
- Der dominante Hund
- Die formale Langzeitdominanz
- Gehorsam in Perfektion
- Dein Hund testet dich gerade aus
© 2021 – Teamschule – Monika Oberli
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