Der situativ dominante Hund

Die situative Dominanz ist flüchtig wie ein Duft. Gerade hast du sie noch beobachtet und gleich darauf ist es, als hätte es sie nie gegeben.

Und genau das zeichnet die situative Dominanz aus: sie ist genau solange vorhanden wie es gilt, etwas Wichtiges zu schützen, behalten oder zu erobern.

Und im Gegensatz zur formalen Dominanz kann die situative sowohl in festen Hundegruppen als auch bei zufälligen Treffen auftreten. Selbst zwischen Artfremden kann eines der Tiere situativ dominieren. Wie zum Beispiel die Katze, welche den Hund nicht durchlässt oder der Trainer, der dem Hund ein Signal gibt, welches dieser befolgt.

Genauso typisch bei der situativen Dominanz ist aber auch, dass derjenige, welcher gerade den dominierenden Part inne hatte, sich im nächsten Moment und in einer anderen Situation zurücknehmen kann, selbst dem gleichen Lebewesen gegenüber.

DIE SITUATIVE DOMINANZ (BE)SCHÜTZT

Die situative Dominanz ist daher auch häufig in Situationen zu beobachten, wo es um den Besitz oder Erhalt von Ressourcen geht wie Plätze, Futter und ein Spieli. Aber auch ein gewöhnlicher Kieselstein oder ein gefundener Ast kann ebenso heftig verteidigt werden wie ein köstlicher Kauknochen.

Jason verwehrt sich gegen das Pfotenauflegen von Mina während eines gemeinsamen Spiels

Die situative Dominanz kann aber auch beobachtet werden, wenn Wichtiges beschützt wird wie die eigenen Welpen, die Gegenstände des Besitzers, der befreundete Hund oder die eigene Unversehrtheit.

Und in gemeinsamen Interaktionen dient sie auch mal dazu, ein unerwünschtes Verhalten des Gegenübers zu stoppen.

Dies alles zeigt, dass der situativen Dominanz das Bedürfnis zu Grunde liegt, etwas zu behalten oder auch in Besitz zu bringen bzw. sich selbst oder etwas Wertvolles zu beschützen. Und es auch hier nicht darum geht, über einen anderen Hund oder Menschen zu herrschen.

MERKMALE DER SITUATIVEN DOMINANZ

Rio stoppt den Riesenschnauzer durch aktives Drohen, worauf dieser sich sofort zurücknimmt. Jason kaut scheinbar unbeteiligt an einem Stöckchen

Aus diesem Grund sind bei der situativen Dominanz vor allem Signale aus dem defensiven Drohbereich zu erkennen, wie es auch Udo Ganslosser in seinem Buch „Verhaltensbiologie für Hundehalter“ beschreibt:

Typische Merkmale der situativen Dominanz sind das Vorpreschen, das Bellen, Abschnappen, das Über-die-Schnauze-fassen (nicht drücken!) und andere Abbruchsignale – alles Verhalten aus der defensiven Aggression“

Und je mental stärker und souveräner ein Hund ist, desto eher wird er seine Bedürfnisse leise und mit kleinen Gesten durchsetzen können.

Manchmal genügt es auch einfach anwesend zu sein. So wie die Huskyhündin in einem meiner Seminare die sich sich völlig entspannt in der Hundeschul-Gruppe bewegte und doch machte ihr jeder Platz – egal ob Hund oder Mensch. Und als sie sich hinlegte, standen plötzlich alle in einem grossen Kreis um sie herum. Dies alles ohne dass sie es eingefordert hätte.

Und Günter Bloch beschrieb in einem seiner Vorträge zum Tuscany Dog Project einen jüngeren Hund, der es sich in die Kuhle des Ältesten bequem gemacht hatte. Aber statt dass der Ältere ihn nun durch Drohen oder sonstiger aversiven Signale vertrieb, legte er sich einfach entspannt daneben. Dem Jüngeren wurde dies mit der Zeit aber sichtlich unangenehm und er gab den Platz freiwillig frei.

Aber auch wenn der Hund laut und aggressiv scheint, will er den anderen Hund nicht ernsthaft verletzen.

Ist die Ressource jedoch für alle Beteiligten sehr wertvoll oder bleibt einem Hund kein anderer Ausweg, wenn er bedroht wird, kann es auch mal zu einer handfesteren Auseinandersetzung kommen. Dies ist aber eher die Ausnahme.

DIE SITUATIVE DOMINANZ IST FLIESSEND

Auch der Wechsel von dominanten zu entspanntem oder gar unterwürfigen Verhalten kann sehr fliessend sein.

So kann ein Welpe, der gerade noch seinen Knochen gegen seine Geschwisterchen verteidigt hat, diesen im nächsten Moment mehr oder weniger klaglos seiner Mutter abtreten.

DIE SITUATIVE DOMINANZ STEHT ALLEN ZU

Der Junghund dürfte seinen Knochen aber auch vor dem Älteren verteidigen, der Kleinste seinen Liegeplatz gegen den Grösseren oder der neu eingezogene Hund seinen Platz auf dem Sofa gegen den Ersthund. Und auch innerhalb der Mensch-Hund-Beziehung hat der Hund das Recht, seine Bedürfnisse nach Besitz und Unversehrtheit mit Verhalten zu artikulieren. 

Dieses momentane Verhalten rüttelt weder an irgendwelchen Strukturen, noch stellt es andere Lebewesen oder generell alle Regeln in Frage.

Dein Hund wird aber auch eher mal sein Bedürfnis zurückstellen oder etwas abgeben, wenn er gelernt hat, dass sein Nein wenn immer möglich akzeptiert wird.

DIE SITUATIVE DOMINANZ IST ARTÜBERGREIFEND

Im Gegensatz zur formalen Dominanz ist die situative Dominanz auch artübergreifend zu sehen. Und in der Regel spielen weder Geschlecht, Rang noch Alter eine wesentliche Rolle.

Die situative Dominanz kann dabei sowohl in festen Gruppen als auch zwischen sich zufällig treffenden Lebewesen (Tier oder Mensch) auftreten.

MEIN HUND VERHÄLT SICH GANZ OFT SITUATIV DOMINANT

Die obigen Ausführungen haben hoffentlich gezeigt, dass es falsch ist, die situative Dominanz als Charaktereigenschaft darzustellen. Dies wäre nicht nur unfair dem Hund gegenüber, da seine Beweggründe völlig falsch interpretiert würden, es würde auch zu unfairen und wenig hilfreichen Erziehungsratschlägen und Konsequenzen führen.

Aber natürlich gilt es auch genau hinzuschauen und seinem Hund zu helfen, wenn er häufig in die Situation kommt, in der er Dinge oder sich selber verteidigen muss. Sei es, weil ihm andere Hunde immer wieder etwas streitig machen oder aber weil er in der Vergangenheit erfahren hat, dass ihm Dinge öfters weggenommen wurden oder aufgrund von Mangel Vieles einen hohen Stellenwert hat.

Das gleiche gilt auch für den Hund, welcher gelernt hat, andere einzuschränken oder ihnen Dinge wegzunehmen, ohne dass es einen Anlass dafür gibt.

Der für beide Hunde ist der dadurch verursachte Stress belastend und kann über kurz oder lang zu chronischen Krankheiten führen..

DIE SITUATIVE DOMINANZ VERSUS UNSICHERHEIT/ÜBERFORDERUNG

Nicht verwechselt werden darf die situative Dominanz mit Verhalten, bei denen eine generelle Angst oder Unsicherheit dahinter steht, die nicht aus der Situation begründet ist. Auch wenn sich die Reaktionen in vielem ähneln.

Ebenso hat es nichts mit einer situativen Dominanz zu tun, wenn ein Hund regelmässig und ohne Grund andere Hunde einschränkt oder einem Hund im gleichen Haushalt immer alles wegnimmt.

Ebenso wenig handelt ein Hund dominant, der unterwegs fremde Hunde bedrängt und einschüchtert. Viel mehr ist es ein Zeichen für Überforderung, da er keinen anderen Weg kennt mit diesen zu interagieren oder sie auf Distanz zu halten. Und über die Zeit hat er gelernt, dass er so die Begegnungen für sich am Besten „überleben“ kann.

DIE SITUATIVE DOMINANZ UND DEIN HUND

Immer noch findet sich in diversen Büchern und Trainingsphilosophien der Hinweis, dass ein Hund auf keinen Fall seinen Knochen gegen seinen Menschen verteidigen oder ihn gar anknurren darf, wenn er ihm die Pfoten putzen möchte.

Dahinter steckt immer noch die alte Angst, dass der Hund sonst seinen Menschen manipulieren und dessen Leben dominieren würde. Eine Ansicht, die heute gottseidank längst wissenschaftlich widerlegt ist.

Hinzukommt, dass es natürlich viel bequemer ist, wenn man sich keine Gedanken um die Bedürfnisse des Hundes machen muss, sondern diese unter dem Deckmantel des dominanten Hundes einfach abstellt. Heute weiss man jedoch, dass das Zusammenleben für Alle viel harmonischer und schöner ist, wenn auch der Hund mit all seinen Bedürfnissen und Gefühlen wahrgenommen wird.

Hab deshalb keine Angst davor, dass dich dein Hund dominiert wenn er

  • dich zum Spielen oder Kuscheln auffordert – er geniesst einfach das Zusammensein mit dir
  • gerne auf dem weichen Sofa liegt – auch er hat es gern bequem
  • vor dir durch die Türe geht – er ist einfach schneller als du
  • auf dem Spaziergang vor dir läuft – sondern geniesse es, ihn dabei zu beobachten
  • vor dir frisst – im Gegensatz zu den uns nahe verwandten Affen, spielt Futter in der Hierarchie keine Rolle
    ..
  • dich anknurrt, wenn er einen Knochen hat – zeige ihm stattdessen, dass du seinen Besitz respektierst
  • wenn er sich gegen eine Behandlung wehrt – übe diese so kleinschrittig mit ihm, dass er sich dabei wohlfühlt

Auch der Hund, welcher aggressiv auf fremde Menschen und Hunde reagiert, ist nicht dominant, sondern fürchtet sich in der Regel vor diesen. Und die Erfahrung hat ihm gezeigt, dass er sie damit auf Distanz halten kann.

DEIN HUND DARF NICHT ALLES

Natürlich muss ein Hund auch lernen, dass er nicht jederzeit auf’s Sofa darf, dass er auf dich warten oder hinter dir gehen soll, wenn du es sagst. Aber dies nicht, um ihm zu zeigen, wer hier der Chef ist, sondern weil es in dem Moment aus Gründen der Sicherheit erforderlich ist. Dies alles kann du ihm in einem achtsamen Training so beibringen, dass es für ihn ein leichtes ist, die entsprechenden Signale und Regeln zu befolgen.

Und genau so schön ist es, wenn ein Hund ganz ohne Stress auch mal einen Knochen abgeben kann oder dir seinen Napf überlässt. Auch hier gibt es tolle Aufbautrainings, ohne dass du den Rudelführer herauskehren musst. Etwas, das es zwischen Artfremden sowieso nicht gibt.

Hast du es bemerkt? Bei den letztgenannten Beispielen warst es immer du, der den situativ dominanten Part inne hat. Und ich bin sicher, du wirst in eurem gemeinsamen Leben noch ganz viele dieser Beispiele finden. Notier dir doch einfach mal auf einem Zettel wo und wann du Dinge von deinem Hund verlangst und wo er über sich und seine Bedürfnisse bestimmen darf. Und ich denke, du wirst vielmehr auf deiner Seite der Liste finden als auf seiner.

Und wer weiss, vielleicht fallen dir auf deiner Liste auch noch einige Dinge ein auf, die du deinem Hund zukünftig zugestehen kannst. Wie zum Beispiel den heutigen Spazierweg zu bestimmen oder welche Beschäftigung oder welchen Kauartikel er heute möchte. Alles kleine Privilegien, die deinem Hund ein besseres Selbstwertgefühl geben und euer Bindung noch stärker machen.

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© 2021 (überarbeitet 2023) – Teamschule – Monika Oberli

3 Gedanken zu “Der situativ dominante Hund

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